Der Tod auf Urlaub

eine Geschichte von Rüdiger Kaun

Der Tod war es leid. Tag und Nacht war er auf seinem Posten. Und dennoch wurde er in unseren Tagen kaum geachtet. Sehnsüchtig dachte er an die gute alte Zeit. Damals fand man ihn überall abgebildet. Von der Kanzel herab wurde seine Macht beschworen. Es gab keinen Dichter, der seiner nicht in Versen gedacht hätte. Und heute? – Arbeiten ohne Anerkennung führt zum Burnout. Der Tod fühlte sich erschöpft. Er ging in Urlaub.

In den ersten Tagen merkte man die Veränderung nicht. Zwar wunderten sich einzelne Bestatter, dass die üblichen Aufträge ausblieben. Sie führten dies darauf zurück, dass die Kollegen auf dem freien Markt erfolgreicher gewesen waren. Eine Woche später geschah etwas, dass verwunderte. Ein Dachdecker war abgestürzt. Er hatte sich sämtliche Knochen gebrochen und lebte. Der Notarzt fand, dass es nicht mit rechten Dingen zugehen könne. Der Mann machte keinerlei Anstalten, seinen Geist aufzugeben. Die Intensivstationen der Krankenhäuser meldeten derweil vergleichbare Fälle. Zwar waren die Patienten todkrank, aber sie starben nicht, auch wenn man die künstliche Beatmung abstellte. Nach kurzer Zeit kam es in den Hospizen zu Engpässen. Die Wartelisten wurden immer länger. In den Zeitungen häuften sich die Artikel über die eine oder andere unerklärliche Zählebigkeit. Man wusste zwar nicht warum – ernsthafte Wissenschaftler zuckten mit den Schultern –, aber es war nicht zu leugnen: Ein uralter Menschheitstraum schien über Nacht in Erfüllung gegangen zu sein, und das ohne Zutun der Wissenschaft.

 Es war, als wäre der Mond vom Himmel gefallen. Man hielt den Atem an. Vielleicht handelte es sich nur um eine vorübergehende Erscheinung. Die Zellen alterten nach wie vor. Vielleicht langsamer. Nicht einmal das war geklärt. Sie blieben am Leben. Hatten sich früher die Niere, die Leber, das Hirn und schließlich das Herz in aller Stille verabschiedet, so arbeiteten sie heute unter allen Umständen weiter, als wenn nichts wäre. Längst meldeten die Nachrichten aus anderen Landstrichen der Welt, dass auch dort niemand mehr sterbe. Ein Krieg tobte irgendwo – schlimm genug! –, aber ohne einen einzigen Toten. Die Erleichterung war gewaltig. Es musste gefeiert werden. Und man feierte. Nacht für Nacht. Wer wollte, da es den Kopf nicht kosten konnte, am anderen Morgen pünktlich zur Arbeit erscheinen? Die Vertreter der Industrie klagten über schwindende Arbeitsmoral. Warum sollte man sich seinen Lebensunterhalt mühsam verdienen!? Wer im Niedriglohnsektor beschäftigt war, blieb zuhause. Verhungern würde er eh nicht. Man tat, was einem Spaß machte. Das Geld spielte zwar noch eine Rolle, dennoch verabschiedeten sich immer mehr Menschen vom üblichen Erwerbsleben. Man genoss die neue Sicherheit. Nach einigen Monaten wurden die ersten Kinder der Generation der Unsterblichen, wie sie genannt wurden, geboren. Es waren viele und wie die Säuglingsstationen meldeten, kamen selbst die frühesten Frühgeburten anstandslos durch.

Allerdings, der Jubel, so groß er anfangs gewesen war, ließ mit der Zeit nach. Es zeigten sich Schattenseiten. Die Ärzte, einst Halbgötter in Weiß, standen lustlos an den OP-Tischen, da ihre Patienten ohnehin überleben würden. Der Sektionsgehilfe in der Pathologie, um ein Einzelschicksal herauszugreifen, hatte in den ersten Tagen mit zwei Pathologen noch Skat gespielt, bis er entlassen wurde. In der Werkstatt des Sargschreiners stapelten sich die Särge. Er besuchte einen Umschulungskurs. Hohläugig sahen seine Kinder dem nahenden Weihnachtsfest entgegen. Der Gabentisch würde leer bleiben. Die Krankenkassen standen vor dem Bankrott. Wer früher gestorben war, ließ sich heute behandeln. Die Rentenkassen waren leer. Selbst die Lebensversicherer, die anfangs in den Jubel eingestimmt hatten, saßen niedergeschlagen in ihren Büros. Sie warteten vergeblich auf Kundschaft. Am schlimmsten aber traf es die möglichen Erben. Sie saßen am Bett ihrer Verwandten. Sie hofften, deren Aktienpakete im letzten Augenblick übernehmen zu können, bevor die Kurse auf den Kapitalmärkten ins Bodenlose stürzten. Manche der Erben wurden praktisch. Man versuchte mit allen Mitteln nachzuhelfen. Aber die Zeit für Mörder, auch für Selbstmörder, war ungünstig.

Es war der Verein der Bestatter, flankiert von den Friedhofsgärtnern und den Steinmetzen, die für ein allgemeines Umdenken warben. Zwar wusste niemand, wie es zu diesem fundamentalen Wandel gekommen war, aber man solle, statt gedankenlos in den allgemeinen Jubel einzustimmen, nachdenken. Sterben zu dürfen sei auch eine Gnade. Hier sprangen die Priester ein. Wenn ewig leben, meinten sie, dann bitte im Jenseits. Die Immobilienbranche trat hinzu. Sie bekümmerte die Wohnungsnot, denn freiwerdende Wohnungen gab es kaum zu vermarkten. Im Zuge der wachsenden Gegenströmung kam man auf den Gedanken, ein Fest des Todes zu veranstalten. Auf den Friedhöfen sollte es stattfinden.

Man dankte denen, die gelebt hatten, aber dann auch gestorben waren. Allmählich machte sich die Einsicht breit, dass der Tod unbestreitbar seine guten Seiten hatte. Im Fernsehen kam es zu Pro- und Kontra-Diskussionen. Nur die Liebenden wollten sich partout nicht damit abfinden, dass sie die, die sie ins Herz geschlossen hatten, verlieren sollten.

 Das Fest – weniger rauschend als das der Lebenden – war ein Erfolg. Es war ein stilles, ein freundliches Fest. Niemand bemerkte den korrekt gekleideten, älteren Herrn, der zwischen den Gräbern hin und her schlenderte. Es war der Tod. Höchstpersönlich. In unseren Zeiten ging er nicht mehr als Gerippe. Niemand sah das dünnlippige Lächeln, das über sein ausgemergeltes Gesicht huschte. Am anderen Tag geschah, womit man schon lange nicht mehr gerechnet hatte, der Dachdecker, der sein Leben, an allerlei Apparaturen angeschlossen, fristete, starb. Die Station lief zusammen. Er war – mehrere Ärzte bestätigten es – tatsächlich tot. Das Leben ging weiter.